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AutorenbildLea Grossmann

Die bärtige Frau

„Wer sind Sie? Und was tun Sie in meinem Badezimmer?“ Diese Frage stellte ich eines Morgens meinem Spiegelbild. Das Gesicht, das mir entgegen starrte, sah erbärmlich aus. Halt! Stopp! Kurios beschreibt es besser. Können Sie sich noch an die bärtigen Frauen im Zirkus erinnern? An die „Bearded Ladies“ wie es im Englischen wesentlich flotter klingt? Ja? Dann nehmen Sie dieses Bild vor Ihr geistiges Auge. Et voilà! Sie haben nun eine ungefähre Vorstellung, wie sich mein Antlitz präsentierte. Ein Griff zum Smartphone und der Termin bei der Kosmetikerin meines Vertrauens war gesetzt. Schliesslich ist der Lockdown Geschichte, und sie darf wieder zupfen, wachsen, die Haut peelen und das Gesicht massieren.

Jetzt stehe ich im Empfangsbereich des Salons meiner Kosmetikerin Steffi. Ihr sonst helles Lachen wird durch eine hellblaue und so gar nicht sexy aussehende Gesichtsmaske gedämpft. Den Anblick, den sie mir bietet, erinnert mich an Dr. Meredith Grey, die Ärztin aus der Fernsehserie «Grey’s Anatomy». Die Serienjunkies unter Ihnen, wissen wen ich meine. Irgendwie fühle ich mich plötzlich unbehaglich. Wahrscheinlich ausgelöst durch diese gruselige Gesichtsmaske. Das Virus wird mir wieder so richtig bewusst. Als will es mir spöttisch mitteilen: «Hallo-ho! Ich bin noch da-ha!» Okay. Ich hab’s begriffen.



Die obligate Umarmung mit Steffi findet nicht statt. Als schwacher Ersatz streckt sie mir das Desinfektionsmittel entgegen. Ein paar Spritzer auf die Hand und der Duft nach Kirsch - oder ist es doch Pastis? – hüllt mich ein. Stumm führt mich Steffi zur Behandlungsliege, auf die ich mich hinlege. Steffis sonst so quirlige Art und ihr Geplapper fehlen mir. Sie ist für meinen Geschmack viel zu ruhig. Ob ihr die Gesichtsmaske auch gleich die Lust zum Reden genommen hat? Diese laut ausgesprochene Frage, bringt sie zum Lachen. „Irgendwie schon. Unter der Maske zu sprechen ist unangenehm. Rein nur durchs Atmen wird es darunter feucht genug.“ Sie zuckt mit den Schultern und beginnt mit der Gesichtsbehandlung.

Warmen Wachs trägt mir Steffi bei den Brauen und der Oberlippe auf. Einmal tief einatmen und eine Hundertstelsekunde später wird mir der ganze Kleister unter stechendem Schmerz weggerissen. Tränen treten mir in die Augen. Unberührt dessen, macht Steffi weiter und trägt erneut warmen Wachs auf. Denn das eine oder andere Härchen strotzte tief verwurzelt tapfer dem ersten Angriff. Steffi greift anschliessend zur Pinzette und macht sich an die Detailarbeit. Noch immer schweigt sie. Ohne diese willkommene Ablenkung spüre ich das unangenehme Zupfen umso mehr. Nach gefühlten drölfzigtausend Stunden ist Steffis Werk vollbracht. Ein wenig kühlende Creme hier, ein paar Tröpfchen Tinktur da. Sie hält mir den Handspiegel vor die Augen und ich erstarre: Hautrötungen und Schwellungen, wo ich auch hinsehe. Als wäre mein Gesicht von Mike Tyson persönlich malträtiert worden. „Soll ich dir noch ein wenig Abdeckcreme auftragen?“ fragt mich Steffi hinter der Maske nuschelnd. Ob sie soll? Sie muss! Würde ich in diesem Zustand nach Hause gehen und mich jemand auf der Strasse sehen, hätte mein Lebenspartner schneller eine Anzeige wegen häuslicher Gewalt am Hals, als die schnellste Maus von Mexiko rennen kann.

Nach dem Auftragen der Make-Up-Creme sehe ich einigermassen passabel aus. Ich verlasse die bequeme Liege, richte meine Frisur, die vom Liegen plattgedrückt ist, gehe zur Kasse und bezahle für die mir zugefügten Schmerzen. Selbstverständlich bin ich masochistisch genug, um mit Steffi gleich den nächsten Termin zu vereinbaren. Was sind schon Schmerzen gegen Schönheit? Nebst dem, dass ich nun nicht mehr aussehe wie eine „Bearded Lady“, bin ich ohne meine Gesichtsbehaarung auch um ein paar Kilo leichter. Abnehmen? So geht das!



 

Dieser Text ist im Rahmen meiner Weiterbildung „CAS Corporate Writer & Digital Storytelling“ entstanden. Der Auftrag lautete: Schreibe eine Reportage mit 3000 bis 4000 Zeichen zum „Thema Coiffeur-/Arzt-/Kosmetik-/Altersheim-/Badi-/etc. Besuch nach Corona“.

Extrem freute mich das tolle Feedback von meinem Dozenten Ivo Hajnal.






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